Die Debatte um Adipositas: Eine Frage der Ernährung?
In der Debatte zeigen wir verschiedene Perspektiven auf Adipositas aus der Ernährungsszene: Stimmen aus Verbänden, Krankenkassen oder Selbsthilfeinitiativen oder der Forschung. Die Statements beziehen sich auf das jeweilige Thema in der Rubrik Forschungsstand. Redaktionen dürfen die Texte verwenden, wenn sie den Ernährungsradar als Quelle nennen.
Inhalt
Was sagen Fachverbände?
Die Deutsche Adipositas-Gesellschaft (DAG)
Um Adipositas einzudämmen und Folgeschäden zu vermeiden, ist ein besserer Zugang zur Therapie elementar. Während Betroffene mit anderen chronischen Erkrankungen selbstverständlich Anspruch auf vielfältige Behandlungsangebote haben, ist das bei Adipositas nicht der Fall. Die Krankenkassen entscheiden selbst, ob sie Kosten für eine Ernährungs- oder Bewegungstherapie übernehmen. Andere Optionen wie begleitende Arzneimittel werden grundsätzlich nicht erstattet, da sie als Lifestyle-Medikamente gelten und diese per Gesetz von der Kostenübernahme ausgeschlossen sind. Dabei sind insbesondere in diesem Feld wichtige Innovationen entstanden, die die Therapie der Adipositas entschieden voranbringen könnten. Zwar hat der Deutsche Bundestag mit dem Beschluss für ein „Disease-Management-Programm“ (DMP) die Adipositas als Erkrankung sowie die Unterversorgung erstmals anerkannt. Letztlich entscheiden aber die konkrete Gestalt des DMP und der rechtliche Rahmen, ob die erheblichen Versorgungslücken geschlossen werden können (DAG 2022a/2022b).
Deutsche Allianz Nichtübertragbare Krankheiten (DANK)
Aus Sicht der Deutschen Allianz Nichtübertragbare Krankheiten ist ein Maßnahmenbündel nötig, um die Prävention von Adipositas zu stärken. Dazu gehören Werbebeschränkungen für ungesunde Lebensmittel, Mindeststandards für das Essen in Kitas und Schulen, eine verbindliche Nutri-Score-Kennzeichnung sowie eine Lebensmittelsteuer, die sich am Gesundheitswert der Produkte orientiert. Die Bundesregierung müsse etwa die Mehrwertsteuer für Gemüse, Obst und Hülsenfrüchte streichen und die Hersteller überzuckerter Getränke zur Kasse bitten: Süße Softdrinks sind ein wesentlicher Treiber für Adipositas und Diabetes. Die Hersteller brauchen laut DANK wirksame Anreize, um den Zuckergehalt drastisch zu reduzieren. Mit Blick auf die Werbung rät DANK unter anderem zu einer Bannmeile um Kitas, Schulen und Spielplätze, innerhalb derer nicht für Süßes oder gezuckerte Getränke geworben werden darf. Außerdem fordert DANK eine zeitliche Beschränkung für Werbung in Fernsehen, Radio und Online-Streamingdiensten (DANK 2022).
Was sagen die Krankenkassen?
Statement der GKV – Spitzenverband Bund der Krankenkassen
Die gesetzlichen Krankenkassen engagieren sich beim Thema Adipositas seit Jahren im Bereich der Prävention, etwa in Form von Kursen zur Vermeidung und Reduktion von Übergewicht, Stressbewältigung sowie Maßnahmen zu Ernährung und Bewegung. Der Fokus liegt auf dem unmittelbaren Lebensraum der Menschen: Das können etwa das eigene Stadtviertel, Kindertagesstätten oder Schulen sein. Darüber hinaus werden Patientenschulungen angeboten – diese sind allerdings freiwillige Satzungsleistungen. Die Krankenkasse entscheidet also selbst, ob eine Patientenschulung bezuschusst oder vollständig finanziert wird. In der Regel dürften aber alle Kassen Schulungen für chronisch kranke Versicherte bezuschussen. Bei Adipositas können auch psychotherapeutische Behandlungen in Frage kommen, diese müssen generell beantragt werden. Die Kasse entscheidet dann aufgrund der eingereichten Unterlagen des Psychotherapeuten und des überweisenden Arztes – es handelt sich also immer um Einzelfallentscheidungen (GKV Spitzenverband 2022).
Was sagen Betroffene und Selbsthilfeinitiativen?
Statement Michael Wirtz, AdipositasHilfe Deutschland e.V.
„Wir setzen uns vor allem für Patientenrechte ein, und hier brennt es: Bislang können Betroffene bei der Therapie vielleicht auf einen Zuschuss der Krankenkasse hoffen, müssen die Behandlung aber im Grunde selbst bezahlen. Für Menschen mit geringen finanziellen Mitteln ist das nahezu unmöglich. Ein strukturiertes Behandlungsprogramm (DMP) soll dies nun ändern. Aber es bleibt abzuwarten, ob dieses DMP nach 2023 wirklich in die Versorgung kommt – oder ob es ein Rohrkrepierer wird. Das ist zum Beispiel mit dem Programm für Depression und anderen DMPs geschehen, Ergebnis: Viele Erkrankte, keine Versorgung. Wir fürchten auch, dass Krankenkassen und Ärzte Angst vor der riesigen Patientenzahl und den hohen Kosten bei Adipositas haben. Das sehen wir schon bei der Diskussion um die Einschlusskriterien, die wir verfolgen – wer gehört zu den Patienten mit Adipositas, wer nicht? Hier hakt es schon. Das DMP jetzt konkret zu erschaffen ist aber keine Frage des Könnens, sondern eine Frage des Wollens“ (AdipositasHilfe Deutschland e.V. 2022).
Body-Positivity: Aktivisten streiten für ein anderes Körperbild
Die Bewegung kommt aus den USA, gespeist aus Ideen von Bürgerrechtlern, Feministinnen, Demokratievereinen: keine Diskriminierung wegen körperlicher Merkmale. Speckrollen, Hängebusen, Haare an den Beinen, Krampfadern sollen nicht als Makel, sondern schlicht als real wahrgenommen werden. Speziell gegen die Diskriminierung von Übergewicht richtet sich die sogenannte Fat-Acceptance-Bewegung, die ebenfalls aus den USA stammt. Sie plädiert für Körperakzeptanz, Selbstliebe und das Abbilden fülliger bis fetter Körper als Normalität in Gesellschaft und Medien. Ihre Aktivisten sprechen sich auch dafür aus, Studien zu Übergewicht anders zu bewerten: Auch starkes Übergewicht habe nicht zwangsweise schädliche Auswirkungen auf die Gesundheit, die Forschungslage sei umstritten. Dieser Behauptung widersprechen wissenschaftliche Fachverbände, darunter die Deutsche Gesellschaft für Adipositas (DAG), aber auch die Betroffenenorganisation AdipositasHilfe Deutschland e.V.: Die Studienlage ist eindeutig, die Evidenz für Folgeschäden und -erkrankungen bei Adipositas überwältigend; Krankheitslast und der Leidensdruck der Betroffenen dürfen nicht geschönt werden (Wirtz/Aberle 2022). (KErn, jb)
Was sagt die Wissenschaft?
„Happy Obese – sind Menschen mit Adipositas wirklich glücklich?“
Statement Prof. Dr. Martina de Zwaan, ehem. Präsidentin der Deutschen Adipositas-Gesellschaft, Fachärztin für Psychosomatische Medizin und Psychiatrie, Klinikleiterin an der Universität Hannover; forscht zu psychischen Folgen und Begleiterkrankungen bei Adipositas, etwa Essstörungen, Depressionen und Angststörungen.
„Das Klischee vom lustigen Dicken ist immer noch weit verbreitet, doch als Fachärztin für Psychosomatik muss ich sagen: Nein, Menschen mit Adipositas sind oft nicht glücklich – sie sind sogar weniger glücklich als andere. Schließlich ist die Adipositas mit über 60 anderen Erkrankungen assoziiert. Darunter sind auch psychische Erkrankungen, die die Lebensqualität vermindern und einen negativen Einfluss auf den Gewichtsverlauf nehmen können.
Bei jedem dritten Teilnehmer an einem Gewichtsreduktionsprogramm kann eine Essstörung diagnostiziert werden. Vor allem das schubweise Essen großer Mengen, die sogenannte Binge-Eating-Störung, ist häufig. Sie ist durch regelmäßige Essanfälle gekennzeichnet, bei denen die Betroffenen das Gefühl haben, nicht kontrollieren zu können, was und wie viel sie essen. Eine Binge-Eating-Störung sollte von Fachleuten psychotherapeutisch behandelt werden, da sie selten von selbst vergeht.
Auch leiden Menschen mit Adipositas häufiger an Depressionen als die Allgemeinbevölkerung. Und wenn man niedergeschlagen und antriebslos ist, fällt es natürlich schwer, auch noch die Ernährung umzustellen oder sich zum Sport aufzuraffen. Bei Depressionen ist daher ebenfalls die Behandlung durch Psychosomatiker, Psychiater oder Psychologen notwendig.
Menschen mit Adipositas sind zudem häufig impulsiv, das heißt, sie können Antriebe schlechter steuern. Zum Teil ist das angeboren, man spricht dann von Temperament. Doch diese Neigung kann sich auch durch ungünstige Lebensumstände, etwa in der Kindheit, entwickeln. Und natürlich beeinflusst das die Therapie: Mangelnde Impulskontrolle macht es den Betroffenen schwer, Ratschläge umzusetzen und ihren Lebensstil zu ändern. Ohnehin hat nicht jeder Mensch dasselbe Ausmaß an Selbstkontrolle, Temperamentunterschiede sind dabei entscheidend. Hier bedarf es einer besonderen psychotherapeutischen Unterstützung.“
Weiterführende Informationen gibt es in Mehr Wissen.
Nachweise
AdipositasHilfe Deutschland e.V. (2022): Statement des Kassenwarts der AdipositasHilfe Deutschland e.V., Michael Wirtz, für den Ernährungsradar im Oktober 2022. Zur Homepage der AdipositasHilfe Deutschland e.V.: https://www.adipositas-selbsthilfe.de/
DAG – Deutsche Adipositas-Gesellschaft e.V. (2022a): Statement des Politischen Geschäftsführers der DAG, Oliver Huizinga, für den Ernährungsradar im Oktober 2022. Zur Homepage der DAG: https://adipositas-gesellschaft.de/
DAG – Deutsche Adipositas-Gesellschaft e.V. (2022b): Versorgungslücke Adipositas – Expert:innen fordern mehr Hilfen für Betroffene – Adipositas-Kongress 2022 in München gestartet. Pressemitteilung vom 06.10.2022
DANK – Deutsche Allianz Nichtübertragbare Krankheiten (2022): Statement des Pressekontakts der DANK, Oliver Huizinga, für den Ernährungsradar im Oktober 2022. Zur Homepage der DANK: https://www.dank-allianz.de/
GKV-Spitzenverband (2022): Statement der Pressereferentin des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen, Claudia Widmaier, für den Ernährungsradar im Oktober 2022. Zur Homepage des GKV-Spitzenverbands: https://www.gkv-spitzenverband.de/
Wirtz M und Aberle J (2022). Persönliche Auskunft von Michael Wirtz von der AdipositasHilfe Deutschland e.V. und Professor Dr. med. Jens Aberle, Präsident der Deutschen Adipositas-Gesellschaft (DAG), für den Ernährungsradar, DAG-Kongress am 6.10.2022 in München.
Titelbild: milatas/stock.adobe.com
Stand: Juni 2023