Mythen und Fakten: hochverarbeitete Lebensmittel
Diese Aussage stimmt so pauschal nicht. Hochverarbeitete Lebensmittel enthalten oft reichlich Zucker, Fett und Salz und sind teilweise so designt, dass sie unser Geschmacksempfinden besonders ansprechen (Hall et al. 2019, Fazzino et al. 2023). Laut Gearhardt und Schulte (2021) zeigen Studien Parallelen zwischen einer Sucht nach Substanzen wie etwa Nikotin und der Sucht nach bestimmten Lebensmitteln (u. a. alkoholische Getränke). Hochverarbeitete Lebensmittel mit einem hohen Anteil an Fett und raffinierten Kohlenhydraten scheinen dabei das stärkste Suchtpotenzial zu haben.
Forscher haben 281 Studien aus 36 Ländern untersucht und schätzen, dass die Sucht nach hochverarbeiteten Lebensmitteln global etwa 14 Prozent der Erwachsenen und 12 Prozent der Kinder betreffen könnte (berichtet in Gearhardt et al. 2023). Sucht wird dabei anhand der Yale-Food-Addiction-Skala eingestuft (Meule et al. 2017). Als Orientierungsgröße: In Deutschland hatten 2018 14,8 Prozent der 18- bis 64-Jährigen einen riskanten und gesundheitsgefährdenden Alkoholkonsum (Atzendorf et al. 2019, Batra et al. 2016).
Kritische Stimmen argumentieren, dass der Begriff „Sucht“ im Zusammenhang mit Lebensmitteln nicht in gleicher Weise wie bei Drogen verwendet werden sollte. Laut Marlies Gruber vom österreichischen „forum. Ernährung heute“ stellt dieser Vergleich eine Verharmlosung problematischer Substanzen dar, da Lebensmittel nicht massiv auf die Psyche wirken oder körperlich abhängig machen können (APA-OTS 2024). Sie erfüllen auch nicht alle Kriterien der sogenannten ICD-10-Systematik, wie einen Kontrollverlust oder eine Toleranzentwicklung. ICD-10 steht für „International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems“. Es handelt sich um ein internationales System der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zur Klassifizierung von Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme, das auch ernährungsbedingte Störungen erfasst (Batra et al. 2016, BfArM 2024).
Fazit: Hochverarbeitete Lebensmittel können süchtig machende Eigenschaften haben, da sie unser Belohnungssystem im Gehirn aktivieren, was bei manchen Menschen zu einem suchtähnlichen Verhalten führen kann. Diese Sucht ist aber nicht vergleichbar mit einer Sucht nach Drogen wie Kokain, Heroin oder auch Alkohol, die in einem anderen Maße und auch körperlich abhängig machen.
Kann man machen – muss man aber nicht. Beim sogenannten „Clean Eating“ ist es unter anderem das Ziel, nur Gerichte zu essen, die nicht mehr als fünf Zutaten enthalten, und möglichst keine Zusatzstoffe zu konsumieren. Fertigprodukte aus dem Supermarkt fallen bei dieser Ernährungsweise somit weg (Freitag-Ziegler 2023).
Aber: Weder die Verarbeitung noch eine längere Zutatenliste sagen zwangsläufig etwas über das Nährwertprofil eines Produkts aus. Nach der gängigen NOVA-Klassifizierung landen auch abgepacktes, vorgeschnittenes Vollkornbrot sowie Gemüseaufstriche in der schlechtesten Kategorie, NOVA 4. Dafür gelten Butter und Zucker als gering verarbeitet bzw. Kategorie 2. Diese mögen zwar wenige Zutaten enthalten, gesünder als eine Scheibe Vollkornbrot sind sie deshalb aber nicht.
Außerdem können wir zahlreiche Lebensmittel erst essen, wenn sie verarbeitet sind, zum Beispiel Nudeln und Brot. Fermentation macht Lebensmittel für uns Menschen genießbarer oder bekömmlicher, das Pasteurisieren von Milch macht sie haltbarer und schützt uns vor Keimen, und das Erhitzen von Tomaten setzt Lycopin frei – einen gesundheitsförderlichen sekundären Pflanzenstoff (Verbraucherzentrale 2021).
Fazit: Verarbeitete Lebensmittel strikt zu meiden, muss nicht gleichbedeutend mit einer gesunden Ernährung sein. Es ist zwar sinnvoll, stark verarbeitete Lebensmittel zu reduzieren, aber eine gesunde Ernährung umfasst mehr. Dabei sollte man auf eine ausgewogene Nährstoffzufuhr, angemessene Portionsgrößen und gesunde Essgewohnheiten achten. Zudem bergen Konzepte wie Clean Eating die Gefahr, Essen nicht mehr als etwas Natürliches zu betrachten, was zu einer ungesunden Verhaltensweise und Essstörungen führen kann, wie der Orthorexia nervosa (die noch nicht eindeutig als Krankheitsbild definiert ist: IN FORM 2024).
Die Wahrheit ist wie so oft komplizierter. Pflanzliche Ersatzprodukte sind keine einheitliche Gruppe: Tofu, Tempeh oder Seitan durchlaufen wenige Verarbeitungsschritte (Jones 2023), und auch andere Ersatzprodukte bestehen zum Großteil aus Bohnen oder Pilzen, die zu Pattys gepresst werden. Burger, Würstchen und veganer Käse sind dagegen Produkte, die meist komplexe Verarbeitungsverfahren durchlaufen, bei denen zahlreiche Zutaten kombiniert und mehrere Prozesse nötig sind, um ein Produkt zu erhalten, das Geschmack, Textur und Aussehen von tierischen Produkten nachahmt.
Aber: Verarbeitung ist nicht immer etwas Schlechtes. Isoliertes Protein aus Hülsenfrüchten enthält zum Beispiel kaum noch Phytate oder Lektine, die die Aufnahme von Eisen oder Zink im menschlichen Darm verhindern (BfR 2024), und die Kombination von Getreiden und Hülsenfrüchten in einem Produkt kann die Proteinqualität verbessern. Zudem waren pflanzliche Ersatzprodukte in einer multinationalen Kohortenstudie von Cordova et al. (2023) – mit 266.666 Probanden und einem durchschnittlichen Follow-up von 11,2 Jahren – nicht mit einem erhöhten Risiko für Krebs und Herz-Kreislauf-Erkrankungen verbunden.
Fazit: Pflanzliche Ersatzprodukte ersetzen im Falle von Wurst andere hochverarbeitete Produkte: Die Zutatenliste einer abgepackten Salami ist nicht kürzer als die einer abgepackten Wurst auf Erbsenproteinbasis. Dafür weisen viele pflanzliche Ersatzprodukte eine günstigere Nährstoffzusammensetzung auf mit weniger gesättigten Fettsäuren und mehr sekundären Pflanzenstoffen. Mehr dazu, ob pflanzliche Alternativen gesund sind, steht im Forschungsstand zu „Alternative Proteine“.
Es gibt zumindest deutliche Hinweise. Laut diverser Studien scheint der Konsum hochverarbeiteter Lebensmittel (bzw. ultra-processed foods, UPF) tatsächlich das Risiko zu erhöhen, an Depressionen zu erkranken:
In der Nurses‘ Health Study (2003 bis 2017, mit 31.712 Teilnehmerinnen) hatten diejenigen mit dem höchsten UPF-Konsum ein signifikant höheres Risiko, an Depressionen zu erkranken, als die Gruppe mit dem niedrigsten Konsum. Zudem hatten Frauen, die ihren UPF-Konsum um mindestens 3 Portionen pro Tag verringerten, ein geringeres Risiko, an einer Depression zu erkranken, als diejenigen, deren Konsum im 4-Jahres-Beobachtungszeitraum relativ stabil blieb (Samuthpongtorn et al. 2023).
Auch in einer spanischen Studie, mit 14.907 Teilnehmenden, hatten diejenigen mit dem höchsten UPF-Konsum auch das höchste Risiko, an einer Depression zu erkranken (Gómez-Donoso et al. 2019). Lane et al. (2023) fanden in der Melbourne Collaborative Cohort Study eine erhöhte psychische Belastung bei zunehmendem Konsum von UPF. Und auch die Teilnehmer der British-Whitehall-II-Kohorte mit dem höchsten UPF-Konsum hatten ein höheres Risiko, depressive Symptome zu entwickeln (Arshad et al. 2023).
Fazit: Die Liste ließe sich noch fortsetzen, die Probleme sind allerdings in der Regel die gleichen: Die meisten dieser Studien sind Beobachtungsstudien, und es gibt keine einheitliche Definition hochverarbeiteter Lebensmittel. Mit anderen Worten: Es lässt sich nicht sicher sagen, ob die Teilnehmenden an Depressionen erkrankten, weil sie viele hochverarbeitete Lebensmittel konsumierten. Oder ob es ihnen an Energie fehlte, mehr Zeit in die Essenszubereitung zu investieren, weil sie an Depressionen litten (Lane et al. 2022, van den Heuvel 2023, Liwinski et al. 2024).
Mehr zur Kritik am Konzept hochverarbeitete Lebensmittel bzw. UPF.
Das stimmt durchaus. Hochverarbeitete Lebensmittel wie Tiefkühlpizzen, Mikrowellengerichte oder Chips brauchen bei der Herstellung in der Regel reichlich Energie, die wiederum Umwelt und Klima belasten kann. Dazu kommen weitere Faktoren, wie der Einfluss der (Plastik-)Verpackung, die nicht nur viel Energie bei der Herstellung verbraucht, sondern am Ende auch die Umwelt und unsere Gesundheit belasten kann.
Ein Beispiel: Frische Kartoffeln haben mit 0,2 kg CO2e einen sehr bescheidenen ökologischen Fußabdruck. Kartoffelpüree-Pulver kommt bereits auf 0,9 kg CO2e. Und Tiefkühl-Pommes-frites verursachen mit 7,0 kg CO2e 35-mal mehr CO2-Äquivalente als unbehandelte Kartoffeln (Reinhardt et al. 2020). Die Kartoffeln werden geschält, geschnitten, frittiert, verpackt und tiefgefroren und wechseln zwischendrin immer mal wieder den Standort, bevor sie am Ende als Tiefkühlware im Supermarkt landen – alles Schritte, die viel Energie benötigen.
Hochverarbeitete Lebensmittel verursachen aber nicht nur mehr Treibhausgasemissionen: Sie verbrauchen auch mehr Fläche und Wasser und tragen zur Wasserverschmutzung bei (Vellinga et al. 2023). Dazu kommen Plastikverschmutzung durch die Verpackung sowie ein Verlust von Biodiversität, weil hochverarbeitete Lebensmittel überwiegend aus wenigen, billigen Rohstoffen bzw. Füllstoffen hergestellt werden, wie Mais, Weizen, Soja und Ölsaaten, wie Anastasiou et al. (2022) aus 52 Studien zusammengetragen haben.
Aber: Auf der Plusseite stehen Dinge wie eine bessere Versorgung der Bevölkerung aufgrund der langen Haltbarkeit der Lebensmittel und weniger Lebensmittelverschwendung, da haltbare Produkte weniger schnell verderben. Zudem können hochverarbeitete Lebensmittel zu einer besseren Nährstoffversorgung vulnerabler Gruppen beitragen (Estell et al. 2020, Lockyer et al. 2023). Und hochverarbeitete pflanzliche Alternativprodukte können dazu führen, dass der Fleischkonsum sinkt, was der Umwelt wiederum zugutekommt.
Mehr zu den Auswirkungen der Ernährung auf die Umwelt gibt es beim Thema Planetary Health Diet
Auch zum Anhören: Mythen & Fakten über Hochverarbeitete Lebensmittel
Hinweis: Die Audiodatei wurde mithilfe des „Text to Speech & AI Voice“-Generators von ElevenLabs erstellt.
Mehr zu hochverarbeiteten Lebensmitteln
Nachweise
APA-OTS (2024): f.eh-Check: Lebensmittel-Sucht? Ein Mythos!
Anastasiou et al. (2022). A conceptual framework for understanding the environmental impacts of ultra-processed foods and implications for sustainable food systems. J Clean Prod 368:133155
Arshad et al. (2023): Association between ultra-processed foods and recurrence of depressive symptoms: the Whitehall II cohort study. Nutr Neurosci 27(1):42–54
Atzendorf et al. (2019): Gebrauch von Alkohol, Tabak, illegalen Drogen und Medikamenten. Dtsch Arztebl Int 116:557–584
Batra et al. (2016): Abhängigkeit und schädlicher Gebrauch von Alkohol – Diagnostik und Behandlungsoptionen. Dtsch Arztebl Int 113:301–310
BfArM – Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (2024): ICD-10-WHO – Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme der WHO
BfR – Bundesinstitut für Risikobewertung (2024): Lektine in pflanzenbasierten Lebensmitteln: Gibt es ein gesundheitliches Risiko? Stellungnahme 03/2024.
Cordova et al. (2023): Consumption of ultra-processed foods and risk of multimorbidity of cancer and cardiometabolic diseases: a multinational cohort study. Lancet Reg Health Eur 35:100771
Estell et al. (2022): Fortification of grain foods and NOVA: the potential for altered nutrient intakes while avoiding ultra-processed foods. Eur J Nutr 61(2):935-945
Fazzino et al. (2023): Ad libitum meal energy intake is positively influenced by energy density, eating rate and hyper-palatable food across four dietary patterns. Nat Food 4:144–147
Freitag-Ziegler G (2023): Ernährungskommunikation in postfaktischen Zeiten. Bundeszentrum für Ernährung
Gearhardt et al. (2023): Social, clinical, and policy implications of ultra-processed food addiction. BMJ 383:e075354
Gearhardt AN, Schulte EM (2021): Is Food Addictive? A Review of the Science. Annu Rev Nutr 41:387–410
Gómez-Donoso et al. (2019): Ultra-processed food consumption and the incidence of depression in a Mediterranean cohort: the SUN Project. Eur J Nutr 59(3):1093–1103
Hall et al. (2019): Ultra-Processed Diets Cause Excess Calorie Intake and Weight Gain: An Inpatient Randomized Controlled Trial of Ad Libitum Food Intake. Cell Metab 30(1):67–77
IN FORM (2024): Orthorexie: Wenn gesund essen zum Zwang wird. Zugriff am 19.07.2024
Jones N (2023): Fungi bacon and insect burgers: a guide to the proteins of the future. Nature 619:26–28
Lane et al. (2023): High ultra-processed food consumption is associated with elevated psychological distress as an indicator of depression in adults from the Melbourne Collaborative Cohort Study. J Affect Disord 335:57–66
Lane et al. (2022): Ultra-Processed Food Consumption and Mental Health: A Systematic Review and Meta-Analysis of Observational Studies. Nutrients 14(13):2568
Liwinski et al. (2024): Immer mehr Hinweise für eine Korrelation – Hochprozessierte Lebensmittel und psychische Gesundheit. Schweizer Zeitschrift für Ernährungsmedizin 1/2024
Lockyer et al. (2023): How do we differentiate not demonise – Is there a role for healthier processed foods in an age of food insecurity? Proceedings of a roundtable event. Nutr Bull 48:278–295
Meule et al. (2017): German version of the Yale Food Addiction Scale 2.0: Prevalence and correlates of ´food addiction´ in students and obese individuals. Appetite 115:54–61
Reinhardt et al. (2020): Ökologische Fußabdrücke von Lebensmitteln und Gerichten in Deutschland. ifeu – Institut für Energie- und Umweltforschung Heidelberg
Samuthpongtorn et al. (2023): Consumption of Ultraprocessed Food and Risk of Depression. JAMA Netw Open 6(9):e2334770. doi:10.1001/jamanetworkopen.2023.34770
van den Heuvel M (2023): So ungesund sind hochverarbeitete Lebensmittel: Mehr Depressionen durch Cola, Chips, Pizza, Burger und Co? Medscape, 10. Oktober 2023
Vellinga et al. (2023): Different Levels of Ultraprocessed Food and Beverage Consumption and Associations with Environmental Sustainability and All-cause Mortality in EPIC-NL. Am J Clin Nutr 118(1):103–113
Verbraucherzentrale (2021): Lykopin – das „Tomaten-Vitamin“?
Titelbild: beats_stock.adobe.com
Stand: August 2024